Angemessene Erinnerung an die Friedliche Revolution vor 30 Jahren und den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 in Thüringen

Katja Mitteldorf

Zum Alternativantrag der Fraktionen DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Drucksache 6/6352

 

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, liebe Schülerinnen und Schüler auf den Rängen! Heute vor 29 Jahren war ich vier Jahre alt, mein Bruder war knapp ein halbes Jahr und meine Eltern waren jünger als ich heute bin. Als ich heute Morgen nach Erfurt gefahren bin, habe ich darüber nachgedacht und habe aus meiner Sicht das erste Mal wirklich nach langer Zeit wieder sehr bewusst das Empfinden auch für mich selber gehabt, was das für eine Umbrucherfahrung gewesen sein muss für meine Eltern in jungen Jahren mit zwei kleinen Kindern. Wie der Zufall es wollte, hat die „Thüringer Allgemeine Nordhausen“ vor einiger Zeit unter anderen mich gefragt, was meine erste Erinnerung war an die Grenzöffnung. Da habe ich nachgedacht und gesagt: Ich war vier, aber meine Erinnerung war eigentlich keine gute, weil ich hatte in Erinnerung, meine Eltern sind plötzlich weggefahren und ich dachte, sie kommen nicht wieder. Ich habe dann, nachdem die „Thüringer Allgemeine“ mich das gefragt hatte und ich das ihnen so erzählt habe, im Nachgang meine Eltern angerufen und habe gefragt: Das ist übrigens meine Erinnerung, stimmt die eigentlich? Weil ich mir natürlich in dem Verhältnis zu meinem Eltern, das ich bis heute habe, auch nicht vorstellen kann, dass jetzt meine Eltern Knall über Fall losgefahren sind und uns zurückgelassen haben. Aber so hat sich das an dem Tag bei mir eingebrannt. Ich finde es nach wie vor sehr beeindruckend, dass mein Vater sehr ausführlich zu mir gesagt hat, dass er geradezu erschrocken darüber ist, wie meine Erinnerung ist, weil es in der Tat so nicht war. Er hat die Vorgänge beschrieben, wie es sich für sie angefühlt hat, als die Mauer sich öffnete und sie natürlich damals dann noch – was heute Sachsen-Anhalt ist – in den Westen gefahren sind, um zu gucken, um dann wieder zurückzukommen. Also mein Bruder und ich waren auch nicht allein. Es war also alles nicht so wie in meiner Erinnerung. Aber das bringt mich immer an einen Punkt, der für mich – als jemand, der de facto so eine Zwischengeneration ist – ganz besonders wichtig ist. Ich gehöre also nicht zu der Wendegeneration, das heißt zu den Menschen, die zur Wendezeit in einem jugendlichen Alter waren und Dinge natürlich schon ganz bewusst und anders erlebt haben und über die es sehr viel wissenschaftliche Aufarbeitung auch gibt und sehr viele wissenschaftliche Erhebungen, was mit diesen Generationen passiert ist durch diese Umbrucherfahrung.

 

Ich gehöre auch nicht zu der Generation, zu denen ihr und Sie da oben gehört, nämlich zu den Nachwendegeborenen, sondern ich gehöre in eine Zeitschiene, wo ich irgendwann nach nachdenken und diskutieren für mich gesagt habe, das ist eigentlich eine entleerte Generation. Meine Alterskohorte gehört nicht mehr zu der Generation, die bewusste Erinnerungen an die DDR-Zeiten hat, sondern ist sehr darauf angewiesen zu hören, was in der Familie passiert ist, und lebt in der Hoffnung, dass man in einer Familie aufwächst, wo man darüber offen reden kann. Ich bin sehr froh und dankbar, dass das in meiner Familie durchaus der Fall war. Meinen Eltern und auch meinen Großeltern war es in allen unterschiedlichen Bewertungen, was die DDR betrifft – da gibt es innerhalb meiner Familie gravierende Unterschiede, das muss ich auch sagen –, immer möglich, darüber sehr offen und auch schonungslos zu reden. Meinen Eltern und Großeltern war es trotz unterschiedlicher und auch schmerzhafter Erfahrungen möglich, darüber zu reden. Das ist nicht überall so – bis heute nicht. Deswegen ist es natürlich gerade in der Frage, was Demokratie und demokratische Prozesse betrifft, umso wichtiger – und das ist auch immer so ein bisschen mein Grund und mein Petitum, weswegen ich gesagt habe, ich möchte mich auch in diesem Parlament um das Thema „Aufarbeitung“ bemühen. Natürlich muss es neben den historischen Fakten, die, wie ich heute leider auch feststellen musste, an einigen Stellen sehr interessant interpretiert worden sind oder auch ein Stückweit ahistorisch und fokussiert auf einen bestimmten Punkt dargestellt wurden, um eine ideologische Variante reinzubringen, neben diesen Fakten, die wir in der Schule lernen und die Sie vielleicht und hoffentlich, sicherlich auch in Vorbereitung des heutigen Tages und Ihres Besuches hier, schon haben, auch darum gehen, dass nachfolgende Generationen ein Gefühl dafür entwickeln, nicht nur zu wissen, es ist damals passiert und ich kann im Geschichtsunterricht „herbeten“, was die Jahreszahlen waren und wann was passiert ist und ich habe gelernt, in welchen Zusammenhängen das vielleicht steht, sondern dass es auch ein Gefühl gibt, was Umbruchserfahrungen für die Menschen damals bedeutet haben.

 

Daraus schließt man dann auch aus meiner Sicht den Rückschluss zu dem, was wir gestern lange diskutiert haben, nämlich den ThüringenMonitor – was macht das mit den Menschen heute? Denn ich glaube, es ist falsch, zu sagen, dass für alle Menschen ein Freudentag war. Natürlich war es für viele Menschen und auch völlig zu Recht ein Freudentag, zu sagen, wir sind auf die Straße gegangen, wir haben uns unterdrückt und nicht wohlgefühlt, wir haben Unrecht erlebt. Für mich ist ja immer ein so ein Beispiel, das bringe ich auch immer wieder gern, die Zwangsausgesiedelten, die sich bis heute Unrecht ausgesetzt fühlen, aber es gibt Menschen – und das finde ich immer wichtig auch an diesen Punkten, dass man das auch nicht negiert diesen Menschen gegenüber –, für die war das kein Freudentag. Auch da kann ich wieder sagen, muss ich nur in meine eigene Familie gucken in der Beschreibung. Eben mit diesen Gegensätzen auch zu leben und sie nicht einseitig zu negieren oder auch nicht einseitig zu sagen, du denkst darüber falsch und du hast kein Recht und nur wir haben recht, das war ja so ein bisschen ein Punkt – und darauf ist die Kollegin Pelke auch eingegangen –, weswegen ich bei der ersten Beratung zu diesem Antrag der CDU auch gesagt habe, angemessene Erinnerung, diese Begrifflichkeit „angemessen“, wer entscheidet was angemessen ist? Denn das ist eine sehr subjektive Geschichte. Das war so ein Einfallstor, weswegen wir auch gesagt haben, wir würden gern mit der CDU zusammen einen Antrag machen.

 

Lieber Herr Wirkner, wir sind uns gestern kurz auf dem Landtagsflur begegnet und ich fand, das war eine sehr schöne kurze Begegnung, ohne viele Worte zu sagen: „Beim nächsten Mal aber wieder zusammen.“ Deswegen bin ich doch ein bisschen enttäuscht über Teile Ihrer Rede von heute, denn es war so, natürlich hat die CDU-Fraktion mit diesem Antrag ein völlig richtiges Thema gesetzt. Allerdings – und das war die Enttäuschung von Anfang an – dachten wir zumindest, wir hatten die grundsätzliche Vereinbarung, dass wir bei den Fragen Aufarbeitung SED-Unrecht, Aufarbeitung DDR-Vergangenheit, von vornherein versuchen wollen, als demokratische Fraktionen gemeinsame Anträge zu stellen. Mit dem Antrag sind Sie vorher nicht auf uns zugekommen, sondern Sie haben den Antrag eingebracht und dann haben wir natürlich, weil uns nach wie vor daran gelegen war, gesagt, gut, wir überweisen diesen Antrag und wir wollen ihn bearbeiten. Dass es aus unterschiedlichen Gründen nicht dazu gekommen ist – das ist hier mehrfach gesagt worden –, finde ich nach wie vor auch sehr schade. Ich finde es – und da komme ich auf den Anfang meiner Rede zurück – aus dem Grund besonders schade, weil für mich ganz persönlich neben öffentlichen Gedenkfeiern und Veranstaltungen einer der wichtigsten Punkte ist, dass wir im besten Sinne auch in Anlehnung an die Friedliche Revolution und das 30-jährige Jubiläum sozusagen im nächsten Jahr Demokratiebildung und Demokratieverständnis in den Mittelpunkt rücken, dass es also für die Generation wie mich und alle, die danach gekommen sind und noch nachkommen werden, nicht nur eine Selbstverständlichkeit ist, in einer Demokratie zu leben und demzufolge sich auch im Zweifel nicht darum zu scheren, warum es wichtig ist, dass man wählen geht, warum es wichtig ist, dass man seine Stimme hörbar macht, warum es wichtig ist, so man die Möglichkeit hat und haben möchte, sich einzusetzen für die Dinge, für die man steht, für die man brennt und dass es eben nicht reicht, sich hinzusetzen und abzuwarten, was irgendwie andere Menschen vielleicht machen, um dann zu meckern.

 

(Beifall DIE LINKE)

 

Und aus diesem Petitum heraus zu sagen, das ist das Wichtige für unsere heutige Zeit, denn – und das merken wir in den letzten Jahren zunehmend leider immer mehr – nichts ist so fragil wie unsere Demokratie und die Freiheit, die wir damit verbinden. Auch ein Begriff, den Sie völlig unterschiedlich interpretieren werden als ich. Das ist völlig normal, denn zum einen ist es eine Generationenfrage und zum anderen ist es eine Sozialisationsfrage – ganz klar. Dass man aber auch die Freiheit lässt, in dieser Frage der Demokratie und dessen, warum Demokratie so wichtig und im Endeffekt das höchste Gut ist, das wir haben, dass man den Begriff der Freiheit eben auch zulässt, auch in der Bewertung von Ereignissen und Geschehnissen in der jüngsten Vergangenheit – nicht anderen Leuten vorzuschreiben, wie sie diesen Begriff auszufüllen haben. Ich glaube, das ist auch ein ganz wichtiger Punkt zur Generationenverständigung und zu der Frage, dass sich natürlich verfestigen muss und kann, dass wir aus der Geschichte lernen können – und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch im Empfinden für das Jetzt und für die Zukunft. Deswegen war es mir besonders wichtig, auch den Zusammenhang zum Landesprogramm zu suchen – es ist ja bereits von Birgit Pelke angesprochen worden.

 

Was auch wichtig ist: Einbindung der Zivilgesellschaft, Einbindung – natürlich – der unterschiedlichen Opfergruppen. Wir wissen es alle: Auch das ist endlich, die biologische Uhr tickt, natürlich. Das heißt, wir müssen, solange wir noch Zeitzeugen haben, die willens und auch in der Lage sind, darüber zu reden, das auch für die Generationen danach nutzbar machen. Deswegen wäre es mir wirklich ein großes Anliegen gewesen, dass wir zu einem gemeinsamen Antrag kommen – in dem Wunsch und dem Willen, dass wir in dessen Mittelpunkt stellen, dass das Wichtigste, das wir haben, diese Demokratie ist und dass diese Demokratie Arbeit ist und dass diese Demokratie genutzt werden muss und soll, aber eben auch verteidigt werden muss gegen Menschen, die sich auch leider heute wieder hier an dieses Rednerpult stellen, in einer großen theatralischen Rede weg vom Antrag gehen und hin zu einer Grundsatzausschlachtung, warum Deutschland quasi in Knechtschaft ist und dass sich das Volk wieder erheben müsse. Da dreht sich mir alles im Magen um und ich frage mich, wie man das den Menschen, die hier sitzen und sich das anhören und noch junge Menschen sind, die gerade für sich selbst Demokratie entdecken – wie man das als Lehrerin im Zweifelsfall oder als Lehrer im Nachgang irgendwie einordnen soll. Das ist für mich ungeheuerlich und das ist für mich wirklich gerade an diesem heutigen Tag einfach eine Schande – ganz ehrlich.

 

(Zwischenruf Abg. Kießling, AfD: Die Rede ist eine Schande!)

 

Nein, die Rede ist keine Schande. Ich weiß, Sie da drüben haben es ja mit den Begriffen, was für Sie alles eine Schande ist, aber Sie sollten …

 

(Zwischenruf Abg. Kießling, AfD: Sie waren nicht dabei gewesen!)

 

Ja, aber dann haben Sie mir ja nicht zugehört, was ich gerade gesagt habe: Dass ich zu den Menschen gehöre, die das Sinnbild dafür sind, dass nachfolgende Generationen aus der Erinnerung an die Friedliche Revolution ziehen müssen und wofür es besonders wichtig ist, einzustehen noch mal: Es ist die Demokratie.

 

Demzufolge noch mal die Bitte an die CDU-Fraktion, sich unserem Antrag anzuschließen. Ich hoffe sehr und inständig, dass wir in Zukunft bei diesem Thema – damit dann nicht im Endeffekt der lachende Dritte hier ganz rechts sitzt – wieder zusammenstehen, und das auch über 30 Jahre Friedliche Revolution hinaus. Herzlichen Dank.

 

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

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